„NU“ Symphonie von Leonid Petruschin

W.N. Tjazhelow
Verdienter Künstler

Die Darstellung des nackten Frauenkörpers gehört zu den ältesten Themen der Weltkunst. Die Entdeckung der Schönheit des Aktes haben wir in Europa den Griechen zu verdanken. Ruhmvoller Held und die schöne Göttin sind mit außergewöhnlicher Expressivität und Kraft in der antiken Skulptur dargestellt. Der Mensch erscheint in den Werken der antiken Griechen als vollkommene Schöpfung der Natur, die Proportionen des Körpers sind ideal, die Bewegungen unbefangen, die Formen plastisch.

Das Mittelalter hat den nackten Körper als sündhaft und missachtend erklärt, hat aber die Stärke des menschlichen Geistes emporgehoben. Die beiden Konzepte bestimmten die weitere Entwicklung des Aktthemas der nachfolgenden Zeit. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wandert die männliche Aktstudien in die Studienräume, und das „Nu“ Motiv bleibt ausschließlich dem weiblichen Körper vorbehalten. Gerade hier kann man zu Ende des Jahrhunderts den Kampf zwischen der akademischen Kunst und den neuen Kunstrichtungen sehen. Die dargestellten Frauen sind nun keine erdachten Göttinnen, sondern ganz einfache Aktmodelle oder Frauen am Toilletentisch. Das 20. Jahrhundert hat es noch weiter gebracht. Die Einheit und die Natürlichkeit des dargestellten Aktmodells wurde demoliert, der nackte Körper wurde zum Ebenbild einer Maschine gemacht, zu einem Plastikmannequin, zu einem leblosen mechanischen Abbild, wurde zum Objekt des bacchanalischen Kultus und der offenen Begierde.

Neben den avantgardistischen Experimenten des 20. Jahrhunderts hat die russische Kunst aber auch die Treue der klassischen Tradition durch die poetische Gestalten von W. Lebedew und durch seelisch und physisch stark wirkende Figuren von A. Deineka beibehalten.

Ist es möglich Anfang des neuen Jahrhunderts blind den Spuren der Vorgänger zu folgen und bereits Gesagtes neu zu wiederholen? Diese Bilder geben Antwort darauf. Man kann auch im Sinne der Tradition das Modell anders, neu sehen. Der Künstler verbirgt nicht, dass all diese Frauen Modelle sind und einen Akt stehen. Plastische Motive der Bilder scheinen uns aus anderen Werken bekannt zu sein, aber deren Wahrnehmung trägt einen ganz andern Charakter. Die Einstellung des Malers den Modellen gegenüber ist weniger entzückt und sinnlich, als mehr konkret und ironisch. Es werden klassische Fabel und Situationen parodiert (Venus Spiegelmotiv als Andeutung an die Bibelgeschichte „Susanne und die Alten“) oder es entsteht eine Assoziation mit einem Bilderbogen, mal sehen wir ein ausgeprägtes Profil, mal fällt eine joviale und kokette Haltung auf. Der Blick auf die Aktstudien verrät einen Blick, der mit dem Wahrnehmen der modernen Architektur und Gewerbeformen vertraut ist: die Umrisse nehmen manchmal betonte geometrische Formen, Rauigkeiten und im Schattenbild klaffen Einschnitte; die Bewegungen werden mechanisch und rhythmisch abgehackt.

Aber es gibt noch eine charakterliche Eigenschaft in den vorgestellten Pastellen:Der Anflug des elegischen Wachtraumes – nicht ohne Grund sind die meisten Bilder in kühlen violett-blauen Farben gehalten – transparent und distanziert. Gerade dieser Anflug der Melancholie und des wehmütigen Bedauerns deckt die Position des Autors am intensivsten auf - die Erkenntnis der Nichtrückgänglichkeit des verloren gegangenes Ideals.

„NU“ Symphonie von Leonid Petruschin

Von Mikhail Lasarew

Graphisch-malerische „NU“ Symphonie von Leonid Petruschin kann nur in einem global umfassenden Kontext beurteilt werden. Die „NU“ Tradition ist der russischen Kunst kaum bekannt, was durch die dominierende ostasiatische Mentalität der Gesellschaft zu erklären ist. In der Sowjetzeit war die Frauengestallt meistens mit einem Arbeitskittel und Gummistiefel verbunden. Der nackte Körper stand unter einem Verbot wie bei den islamischen Fundamentalisten.

Somit liegen die Hintergründe von Petruschins Schaffens noch bei der Entstehung des „NU“- Genre in der Renaissance, um nicht zu sagen in der Antike. Gerade in den Werken von Giorgione, Tizian und der Weiteren kamen die idealen Vorstellung über die Frauenschönheit zur Geltung: Über die Jahrhunderte, der üppigen Barockformen von Rubens, familiäre Milieus von Rembrandt, raffiniert-graziöse und kokette Arbeiten von Boucher, ideale Klassik von Ingres, über die fruchtlose zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den betont zeitgenössischen Modellen von Edouard Manet und den neuen Darstellungsmitteln von Picasso und Modigliani.

Man kann die Analyse und die Kritik der „NU“ Symphonie durch die enge Spezifik des Inhaltes, nur auf rein technische Aspekte begrenzen, anders gesagt nur auf die Kunstmittel, die die Entwicklung von einer Arbeit zu der Anderen ermöglichen. Die Modelle sind von der Außenwelt isoliert (man findet keine bindende Accessoires), alle philosophischen, religiösen, soziologischen, psychologischen und andere Aspekte werden zur Seite gelegt. Aber wie kann man dann die aufregende Ausgeprägtheit der Modelle, ihre Angehörigkeit dem heutigen Tag, dem Anfang des 21. Jahrhunderts erklären?

Die Erläuterung findet man in der Art und Weise wie der Maler sein Vorhaben zur Geltung bringt: In der Klarheit der Technik und der Reinheit der Konzeption, in der perfekten Meisterung des Zeichnens. Petruschin scheut sich nicht vor den gewagten Farbkombinationen, bringt in vollem Maß in seinen großformatigen Bildern die dekorativen Eigenschaften der Pastelle zur Geltung, dabei bleibt aber die grafische Spezifik in allen Einzelheiten erhalten. Mit diesen ausdrucksvollen formellen Mitteln akkumuliert der Autor seine intellektuellen Reflexionen und seine Erfahrungen, das ist eine Art künstlerische Spiegelung, unermüdliche Suche nach... Wonach? Nach der formellen Perfektion oder nicht entgegengebrachten Gefühlen, oder was der Wahrheit am nächsten liegt, nach einem Versuch mit der Summe der unterschiedlichen Charaktere ein einheitliches Erscheinungsbild von einem bedeutenden Phänomen zu konstruieren?

Bei der mehrfachen Wiederholung verliert das Objekt seine ursprünglichen immanenten Eigenschaften, verwandelt sich in ein Schriftzeichen, in eine Hieroglyphe mit neuer Bedeutung und eigener Schönheit. Somit nähern sich Petruschins Kompositionen in ihren Lakonismus einem Zeichen (der Ausbildung nach ist der Künstler ein Plakatkunstmaler mit langjähriger erfolgreicher Erfahrung auf diesem Gebiet, wo dem Zeichen eine erstrangige Bedeutung beigemessen wird). Unterschiedliche Assoziationen werden bei dem Zuschauerhervorgerufen, sie können weit über die Grenze des Ateliers führen in die brausende Gegenwart oder in die stille Vergangenheit.

Neben der Virtuosität des Zeichners finden wir in den Werken die Kunst des Komponierens. Nicht zufällig heißt der Zyklus „NU“ Symphonie – eine Symphonie von Farben als Übertragung der Gemütsstimmung des Künstlers - ein Titelthema der Bildreihe. In der Serienfolge und der Wiederholung der gleichartigen Motive können wir etwas von der Pop-Art finden, unterbewusst steht man unter dem Einfluss der Epoche.

An dieser Stelle kehren wir zum Anfang zurück, zu den beiden Kunstrichtungen, die vom Schaffen Picassos und Modigliani bestimmt waren. Falls wir Petruschins Kunst mit etwas vergleichen wollen, so ist das natürlich die Mythenschöpfung von Modigliani, obwohl die Analogie finden wir nur im besonderen Blick auf das Modell, den Blick den wir als sittsame Freimütigkeit bezeichnen können. Im Gegensatz von weitverbreiteten Tendenzen der Formveränderung im 20. Jahrhundert, bleibt Petruschin dem realistischen Malverfahren treu (obwohl die Definition von Realismus steht noch nicht eindeutig fest). Dieses Verfahren ist keine affektierte Leidenschaft zu den heiligen väterlichen Traditionen, sondern angeborene und im Laufe der Selbstentwicklung angeeignete respektvolle Liebe zu der seienden Welt.

Was noch als markante und eigene Besonderheit der „NU“ Symphonie hervorgehoben sein soll ist das Ausbleiben der Figur des Künstlers selbst auf den Bildern, wenn wir das mit dem von Picasso weitverbreiteten Sujet „Der Maler und das Modell“ vergleichen. Nur einmal flimmert das Halbprofil des Künstlers an der Staffelei im Spiegelbild. Diese Interpretation des Modells frei ohne der momentane Verstrickungen macht die „NU“ Symphonie unreal, wird vom Betrachter nicht durch den Verstand, sondern wie die Musik auf dem unterbewusstem Niveau wahrgenommen.