Laut dem bekannten Kunsttheoretiker Milan Kundera “...hatte die Malerei in der Renaissance den Hintergrund und die Perspektive entdeckt, was das Bild in den Vordergrund und die Tiefe teilte. Daraus entstand ein spezifisches Problem der Form; z. B. das Porträt: das Gesicht zieht mehr Aufmerksamkeit und Interesse auf sich, als der Körper und noch mehr, als Drapierung im Hintergrund. Und es ist ganz normal, so sehen wir die Welt um uns herum. Was dennoch im Normalleben den Anforderungen der Kunst nicht entsprach, sollte man entschärfen, dämpfen, um das angetastete Gleichgewicht zwischen den einzelnen Teilen des Bildes, die bevorzugt waren und dem Rest, der als a priori unwichtig angesehen wurden, wieder herzustellen.“ Was aber verwunderlich ist: Die Schlussfolgerungen des Künstlers, die meistens so genau und präzis sind, kann man zu dem Schaffen von Leonid Petruschin nur bedingt anwenden, es soll schon eine Ausnahme aus der Regel sein. Wenn wir über seine „Nu“ Symphonie und der Porträtsserie sprechen, die innerhalb von dreißig Jahren entstanden sind, ist es ziemlich schwer zu verstehen was die Aufmerksamkeit des Malers „mehr anzieht“ – das Gesicht oder der Körper.
Wenden wir uns aber dem Zeitraum, in dem diese Kunstwerke hervorgebracht wurden, so sehen wir, dass fünfzig Aktkompositionen, die vom Künstler als abgeschlossenes Ganzes betrachtet werden, in einer schöpferischen Kunstflut nur innerhalb eines Jahres (2005) entstanden sind. Die Schaffenskraft und Kunstbegeisterung des Malers ist bewundernswert. Andererseits, sind die im Katalog vorgestellten Porträts, in einem Zeitraum von 1977 bis 2006 entstanden. Und was noch bemerkenswert ist – diese Porträts unterscheiden sich radikal voneinander, so wie sie zwei unterschiedliche historische Epochen widerspiegeln: schwarz-weisse Zeichnungen der sowjetischen Zeit und Ölkreide der Postperestrojka – Russlands.
Zu der Zeit ihrer Entstehung sahen diese schwarz-weissen Porträts ganz angemessen aus, ohne fragliche Emotionen hervorzurufen. Solche Art des Zeichnens war damals angebracht und üblich. Heute aber, nach so vielen Jahren und besonders im Vergleich zu den sonnenfarblichen Ölpastellen, wirken diese Bilder auf den Zuschauer als bestimmte mentale Unterdrückung und Befangenheit der Bewegung. Diese Bedeutung und diese Emotionen hat damals Leonid Petruschin den Bildern nicht bewusst verliehen, aber als Künstler vom Talent und Fügung gezeichnet, hat er mehr unbewusst in seiner Tätigkeit dem Flüstern und dem Geräusch der Epoche gelauscht, was so viele Jahre später deutlich ans Licht kam.
Die Brillanz von Petruschin dem Zeichner kann man nur konstatieren: Seine Bleistiftporträts sind außerordentlich verschiedenartig, dieses demonstriert er durch unterschiedliche Techniken der Darstellung. Das sind präzise, bildsam - klare, in Details gehende Zeichnungen, seien sie nur mit einer Kantenlinie oder mittels des plastischen Modellierens mit Farb- und Lichteffekten und der eigenartigen Schummerung gemacht. In diesen Arbeiten fixiert er genau die physiognomische Besonderheiten des Models, bisweilen mit verschärfter Expressivität und individueller Gebrechlichkeit, was für Petruschin besonders markant ist. Die Spezifik seiner Kunst, was bereits offensichtlich ist, wird nicht durch Landschaften oder Stillleben bestimmt, sondern der Mensch mit all seinen Facetten steht im Mittelpunkt seines Schaffens.
Die Bleistiftzeichnungen von Leonid Petruschin wirken akademisch, sie können sogar als zeitgenössische Klassikwerke der damaligen Zeit gelten. In diesen Zeichnungen klingt durchdringend die Intonation der Epoche, unbefangene Wahrnehmung wird in den Zeichnungen als der Fortgang der Vergangenheit in die Gegenwart aufgefasst. Das Gestaltungssystem von Petruschin ist einfach, frei von Vieldeutigkeit. Der Autor greift nicht zu den unwahren, irrenden Motiven, seine Modelle posieren ihm oft selber, was man durch die angespannten Gesichtszüge erkennt. Das Gemeinsamkeitsmodul des menschlichen Verhaltens und Auftretens erteilt allen Modellen signifikante Symbole der Epoche.
Alles, was der Künstler über die Welt weiß, weiß er aus der eigenen Erkenntnis und seiner Lebenserfahrung. Ohne dieses Anliegen würden alle vom Autor erbrachte Symbole nur eine leere Hülse. Die Erfahrungen im Zeichnen von Petruschin sind enorm: während seiner Fahrten in der Moskauer Metro machte er mehr als 6000 Skizzen von den mitfahrenden Reisenden,dies ist eine Tatsache, die ins Guinness Buch der Rekorde gehört. Dies sagt auch über die absolute Freiheit des Künstlers bei der schöpferischen Einsicht von Menschen etwas aus. Anstatt der mechanisch dargestellten Weltrealität, widerspiegelt der Künstler mit kargen, kaum erkennbaren und höchst gefeilten Zügen die soziale Angehörigkeit der Personen, die Realität ihrer inneren Welt – endlos kompliziert und widersprüchlich. In den meisten Kompositionen von Petruschin dominiert neutral- dunkler Hintergrund. Der Anblick der realen Umwelt ist dosiert und wirkt sehr lakonisch: (im Hintergrund haltender Traktor „Der Traktorist“(1985); Windsack im „Briefträger aus Purnema“ (1985); ganz rätselhafter Eisenbahnhintergrund im Porträt „Nastja“ (1985), der die Assoziationen mit dem allgemein ungeregelten menschlichen Leben hervorruft; Halbkreis des alten Fensters im Porträt „Nadja“ (1985) erinnert uns an die Architektur des Silbernen Zeitalters (zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts) usw).
Betrachtet man die Porträts von Petruschin aus der sowjetischen Periode, so könnte man sagen, dass er ein Künstler ist, der zur Analyse neigt ist und die Konturen seines Denkvorganges aufbauen kann. Seine Leidenschaft zu den unbewussten, spontanen Bewegungen kommt in den Pastellen der heutigen Zeit und im eigenen Charakter der Malerei zum Ausdruck. Beinahe puritanische Rigorosität der „schwarz-weissen“ Periode wird durch die zügellose Farbsphäre in den Pastellporträts abgelöst. Der Maler nutzt die ganze Farbpalette, aber in seiner Arbeit findet man keine geschmacklose Buntheit. Das temperamentvoll aufgetragene Mosaik der zusätzlichen Farbstriche (dieses Kunstverfahren, wie es uns scheint, duldet keine langen Überlegungen mit dem Pinsel in der Hand), bildet in den Arbeiten beginnend 2002 eine harmonische Einheit, bringt die emotional-inhaltliche Bedeutung des Porträts besonders zur Geltung. In der alten kunsthistorischen Literatur kann man ab und zu den Gedanken finden, dass der Porträtmaler wohl oder übel in den von ihm gemalten Porträts seine eigene Züge widerspiegelt. Im Petruschin’s Fall ist es am besten mit Goethes Worten zu beschreiben: “wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Welt der Farbe und der Seele“, gemeint wird die Seele des Künstlers und seines Modells.
Man muss betonen, dass die Mehrheit der Modelle auf diesen, in Bildern festgehaltenen “Fest des Lebens“, Frauen sind. Obwohl die Werke nah beieinander entstanden, unterscheiden sie sich durch ihre künstlerische Charakteristik. In den Porträts aus dem Jahr 2005 („Marina“, „Polina“ und andere) grenzt die strenge und lebhafte Zeichnung die Fläche der fast lokalen Farbe ein, die manchmal durch den Purpur und Azur des Jugendstils aufflammt. Hier erfolgt ein organisches gegenseitiges Eindringen „der Natur“ und „der Kultur“. Nicht zufällig können wir in manchen Porträts den Anklang von manch großen Stils finden, in jedem einzelnen Fall dem Wesen des Modells entsprechend.
In unserer Unterhaltungsgesellschaft wird das Individuum nivelliert, die Kunst verliert an den individuellen Besonderheiten. Vielleicht ist es dem Menschen auch recht so. Die Kunst von Leonid Petruschin bringt uns aber wieder in die Welt der Gelassenheit, Liebe und der hohen Kunstschätze.